Therapie nach Plan, aber mit Überraschungen
Ich kam mir vor, als wäre ich nach einem Umzug aufs Land in eine neue Schule gekommen. Das Gebäude war eher hässlich, die Leute alle ein bisschen dörflicher und der Stundenplan ziemlich ungewöhnlich. Eigentlich war es ein Therapieplan, gelb, DIN A5 im Querformat und aus ganz dünnem Durchschreibpapier. Ein paar der Kästchen waren ausgefüllt, aber die unberührten gelben Flecken überwogen. Und was dort stand, erinnerte mich an den DDR-Standard, der sich in großbuchstabigen Abkürzungen präsentierte. KG hieß Krankengymnastik. Die gab es jeden Tag in doppelter Einheit. ET war Ergotherapie, jeden zweiten Tag. Es gab auch Abkürzungen für Bürstenbad, Stangerbad, Gruppengymnastik, Elektrotherapie, Wassertherapie, heiße Rolle, Stehtisch, UV-Bestrahlung, Massagen, Rollstuhltraining und so weiter. Das sollte es also sein, was ich jetzt zu tun hatte.
Nach einigen Tagen kannte ich auch die dazugehörenden Wege in die verschiedenen Abteilungen. Das war nicht so ganz einfach, denn der Gebäudekomplex stammte aus vier oder fünf verschiedenen Bauphasen. Am gelungensten fand ich noch den neuen achteckigen Gymnastiksaal mit den riesigen Fenstern, vom Boden bis zur Decke. Den Stehtisch, in dem ich mich stehenderweise mit einem kleinen Ball auf einer schreibpultähnlichen Fläche beschäftigte, ließ ich immer vor eines der großen Fenster karren, um weit in das Weserbergland zu sehen, wenn es die Wetterlage erlaubte.
Der Stehtisch ist eine Art Liege, auf der man festgeschnallt wird. Dann wird der Tisch aus der Waagerechten in die Senkrechte gebracht, und man steht. Tolles Gefühl, auch wenn man festgeschnallt ist. Doch was dann kommt, macht die Situation etwas unangenehm. Zuerst verabschiedet sich der Kreislauf, und dann lässt die Harnblase allen Wassern freien Lauf. Da steht man dann. Man steht – ja, aber voll gepinkelt. Toll! Also hatte ich vorgesorgt. Auf der Station ließ ich mir einen Urinalkatheter anlegen, sodass fließen konnte, was wollte. Es ging jedenfalls nicht in die Hose, sondern in einen Urinbeutel.
Nachdem ich meinen Therapiestundenplan eine Woche lang ausgetestet hatte, hatte ich den Eindruck, dass es ruhig ein bisschen mehr von dem sein dürfte, was in Abkürzungen auf meinem gelben Zettel stand. Deshalb fragte ich den Oberarzt, ob er meinen Leerlauf nicht ein bisschen verringern könnte. Der schaute mich erstaunt an und erklärte mir, dass ich schon die doppelte Einheit Krankengymnastik bekäme. Das sei mehr, als die Krankenkasse üblicherweise übernehme. Er müsse dafür ohnehin noch einen Kostenbewilligungsantrag nachsenden.
Mit meiner Gier nach Therapien hatte ich ihn wohl überrascht. Den Grund dafür kannte er nicht. Ich hatte für mich eine ganz einfache Rechnung aufgemacht: Wenn ich rund um die Uhr Therapien bekäme, müsste sich theoretisch auch die Aufenthaltszeit in der Klinik verringern, vielleicht sogar halbieren. Außerdem war ich froh, wenn ich viel zu tun hatte, da blieb weniger Zeit zum Nachdenken und Traurigwerden. Es gibt nichts Schlimmeres, als sinnlos rumzusitzen und auf den nächsten Programmpunkt zu warten.
Montagmorgen, Woche Nummer zwei. Auf dem Tisch, der mittlerweile an der Fensterwand des Zimmers stand, warteten das Frühstückstablett und der gelbe Plan auf mich.
Ich hatte beschlossen, mich nicht mehr um sechs Uhr morgens aus dem Tiefschlaf reißen zu lassen, um mich kurzzeitig aus dem warmen Bett zu quälen, damit die Schwestern und Pfleger das Bettlaken gerade ziehen, dem Kissen ein paar Schläge erteilen und die Bettdecke zum Auskühlen über das Fußende hängen konnten. Okay, es war nicht unbedingt ein Fall für »amnesty international«, aber ich empfand dieses morgendliche Ritual als unmenschlich. Wie albern: Das Waschen fand auf dem frisch zurechtgezupften Bett statt. Ich ließ es im Halbschlaf über mich ergehen.
Dann folgte das allmorgendliche Versteckspiel, und das lief folgendermaßen ab: Ich versuchte weiterzuschlafen, während einer der Störenfriede ein Fieberthermometer unter meinen Achseln versteckte. Das Thermometer spielte Mister X; es wanderte. Nach längerer Suche fanden es die weißen Detektive irgendwo in meinem Bett, doch niemals an der gleichen Stelle wie am Tag zuvor.
Die Sache mit dem Bettmachen und Waschen hatte ich weit nach hinten schieben können. Irgendwer hatte Mitleid mit mir empfunden und mich an die letzte Position der Frühprozedur gesetzt. Das bescherte mir mindestens eine Stunde mehr Schlaf.
An diesem Montagmorgen rollte ich also zu einigermaßen humaner Zeit an den Frühstückstisch. Mit halbgeöffneten Augen warf ich einen Blick auf den gelben Zettel. Es wimmelte plötzlich vor lauter Abkürzungen. Da gab es praktisch keine gelben Flecken mehr auf dem Papier. Die Damen und Herren in Weiß hatten sich entschlossen, mit mir etwas zu probieren; etwas mehr und etwas anders als gewöhnlich. Fortan erhielt ich nicht nur die doppelte Einheit Krankengymnastik pro Tag, sondern auch eine zusätzliche Einheit mit einem Krankengymnastik-Schüler, der kurz vor seinem Examen stand. Und als ob das nicht schon genug der Güte gewesen wäre, gab es da noch eine seltsame Abkürzung. Und die stand für ein Experiment. Zwei Krankengymnastinnen, die gerade erst von einer Spezialausbildung zurückgekommen waren, sollten an mir demonstrieren, was sie Neues gelernt hatten. Das nannte sich E-Technik oder E-Methode, hatte aber entgegen meinen ersten Befürchtungen nichts mit dem Elektrizitätswerk zu tun.
Schon am Nachmittag ging es los. Alexandra und Claudia waren die beiden Experimentatorinnen. Alexandra war sehr schön, und ihre strahlenden Augen schauten konzentriert auf mich herab. Claudia, sie hatte noch etwas Babyspeck im Gesicht, wirkte nicht ganz so energisch. Ich lag nur mit einem Slip bekleidet auf dem gepolsterten Tisch, und die beiden hockten seitlich über mir. Das sah für alle Umstehenden bestimmt etwas eigenartig aus. Ich war gespannt, was nun passieren sollte.
Während die beiden an mir herumbastelten und rumdrückten, erzählte mir Alexandra, was sich seit dem Unfall in meinem Zentralnervensystem abgespielt hatte: Wenn das Rückenmark durchtrennt oder gequetscht wird, dann kommt es zu einem spinalen Schock, einer Art Koma des Rückenmarks. Damit schützen sich das Mark und das Gehirn nach einer massiven Störung. Das Nervengewebe schwillt an, manchmal kommt es zu Einblutungen, und meist bilden sich Vernarbungsgebiete an der Verletzungsstelle aus. Nach sechs bis acht Wochen klingt der Schock ab, die Schwellungen bilden sich langsam zurück, und einige Abschnitte der Nervenbahnen, die nicht verletzt worden sind, könnten wieder arbeiten. Die Leitungen sind wieder frei, jedenfalls dort, wo sie nicht durchtrennt oder vernarbt sind.
Allerdings hat das Gehirn, das den spinalen Schock mit hervorgerufen hatte, diese Nervenbahnen über die Wochen hin abgeschrieben. Geht nicht mehr, gibt’s nicht mehr. Das Gehirn könnte sie nutzen, um mit den Signalen nach unten durchzukommen, tut es aber nicht. Außerdem gibt es da noch die kleinen Denkzentren weiter unten im Rückenmark. Die haben ihren Dienst gleich mit quittiert. Schuld daran ist nicht nur die Befehlsarmut vom Gehirn her, sondern auch das lange Liegen, das einen gewissen Verlerneffekt mit sich bringt.
Was tun? Eigentlich ganz einfach: Man muss das Gehirn dazu bringen, durch die noch vorhandenen oder wieder nutzbaren Bahnen Befehle nach unten in den Körper zu senden. Aber so einfach geht das wohl nicht. Wie sollte ich denn das Gehirn dazu zwingen? Wie sollte ich die Denkzentren im Rückenmark wieder zur Arbeitsaufnahme bewegen? Das hörte sich alles plausibel und fast simpel an, aber ich hatte keinen blassen Schimmer, wie ich das hinbekommen sollte. Der Wille war ja vorhanden, aber das allein reichte da nicht.
Dafür gibt es die E-Technik, eine Art erweiterte Vojta-Therapie. Bei der Vojta-Behandlung wird das Gehirn durch das Auslösen von Reflexzonen angeregt, das Programm der angeborenen idealen Bewegungsmuster in Gang zu setzen (Reflexlokomotion). Diese physiotherapeutische Technik auf entwicklungskinesiologischer Grundlage wurde von Peter Hanke zur E-Technik weiterentwickelt, erklärte mir Alexandra. Sie soll das Zentralnervensystem dazu bewegen, gespeicherte Informationen und Bewegungsmuster nach unten zu senden und aus dem Körper Signale abzurufen. Doch mein Denkorgan war quasi bockig und tat nichts von selbst. Alexandra sagte, sie erkläre mir das, damit ich verstehe, was wir tun und warum. Das sei sehr wichtig.
Okay, ich versuchte zu verstehen: Ich war gelähmt, mein Gehirn war bockig, mein Wille unbändig, und die beiden Therapeutinnen waren wild entschlossen, mich aus dem Dilemma herauszuholen. Es hörte sich zwar alles mehr nach Magie an als nach Therapie, aber gut. Sollen sie nur machen, dachte ich.
Die beiden hatten beschlossen, mit dem rechten Bein anzufangen, denn bei den vorangegangenen Tests war es nicht ganz so tot gewesen wie das linke. Ich lag also auf dem Rücken, das rechte Bein auf einem mit weißen Kunstleder verkleideten Schaumstoffblock, sodass der Unterschenkel vollständig auflag. Mit der linken Hand drückte ich gegen einen anderen fixierten Block. Mit rechts baute ich Spannung auf, indem ich den Oberarm so hoch stellte, als würde ich auf der Handfläche ein imaginäres Tablett mit schweren Gläsern balancieren.
Die Spannung in den Armen war nicht wirklich kraftvoll, aber darauf kam es wohl nicht an. Alexandra drückte mit ihrem linken Mittelfinger ziemlich derb auf einen Punkt auf meinen Kopf. Mit dem rechten Handrücken verdrehte sie die Haut unterhalb meiner rechten Brust zwischen dem sechsten und dem siebten Rippenbogen. Claudia drückte mit zwei Fingern auf meinen rechten Fußrücken und mit der freien Hand hier und da mal oder sie prüfte die Spannung in meinen Armen.
»Zieh den rechten Fuß hoch, Stephan«, sagte Alexandra. »Zieh hoch! Denk nur an deinen Fuß, dass du ihn zu dir ziehst!« Okay, das tat ich. »Hör nicht auf, halt die Spannung und zieh immer weiter an!«, befahl sie mit etwas gepresster Stimme.
Ich stemmte weiter wie ein Ochse meine Arme gegen die Widerstände und zog meinen Fuß an. Doch in meinem Fuß tat sich nichts. Nix. Es bewegte sich gar nichts. Wie auch? Was sollte da ein bisschen Spannung, Rumdrücken und Willensanstrengung bewirken können? Aber vielleicht brauchte es ja auch einige Zeit, bis die Impulse vom Gehirn auf ihrer Reise durch die Irrwege meines Körpers ganz unten im Fuß ankamen.
Diese recht lustig anmutende Stellage von zwei Krankengymnastinnen und mir Halbnacktem – zwischen und unter ihnen – dauerte länger als eine Stunde. Sie variierten ihre Bemühungen, ohne jemals die Druckpunkte an meinem Körper aufzugeben. Die beiden besprachen über mich hinweg, ob sie auch alles richtig machten. Aber es tat sich nichts. Nach etwa 90 Minuten beendeten sie die Prozedur. Ich war völlig geschafft und sie auch. »Wir machen morgen weiter«, sagte Alexandra. Sie schien die Chefin zu sein, denn sie gab die Befehle und führte das Wort. Okay, ich war einverstanden. Es handelte sich ja um ein Experiment. Und Experimente können auch klappen.
Am nächsten Tag begann das Spiel von vorn. Ausziehen, hinlegen, Spannung aufbauen, Punkte drücken und »Fuß anziehen!« Ich zog wieder an, und es tat sich nichts. Nach mehr als einer Stunde Quälerei war nichts Außergewöhnliches zustande gekommen, außer dass wir drei schwitzten, die Gesichtsfarbe der Mädels immer deutlicher in Richtung Rot tendierte und ab und zu ein vorbeikommender Kollege eine neidvolle Bemerkung absonderte. Mein Fuß blieb da, wo er war. Er bewegte sich nicht, vollführte keine Kunststückchen, Schattenspiele oder Tanzeinlagen.
Ich wollte die mystische Stimmung ja nur ungern zerstören, aber ich fragte vorsichtig nach, was die beiden sich von dem Ganzen denn versprachen. Mir war klar, dass auch bei anderen Therapien nicht reihenweise Wunder passierten. Aber bei so einem Mordsaufwand sollte doch auch mal was herauskommen – ein kleines Wunderchen vielleicht.
Alexandra begegnete meiner Ungläubigkeit sehr bestimmt mit Teil zwei der Lektion: Das Gehirn musste in eine Art Stress versetzt werden. Daher die Konzentration auf die verschiedenen Spannungen. Zusätzlich wurde das Gehirn durch die verschiedenen Druckpunkte gereizt. Zwischen dem sechsten und siebten Rippenbogen wurden durch die Verschiebung der Haut die Nervenenden so aneinander gedrückt, dass ebenfalls ein Reiz, aber ein bis dahin unbekannter, an das Gehirn abgegeben wurde. Nebenbei musste ich mich ja auch noch auf meinen Fuß und die geforderte Bewegung konzentrieren. Das alles zusammen sollte dazu führen, dass mein Hirn im Vollstress sagt: »Leckt mich doch, das geht nicht, und ich werde euch beweisen, dass es nicht geht.«
Am vierten Versuchstag vergingen wieder wertvolle, hochbezahlte Minuten, in denen sich nichts tat. Wir drei absolvierten das bekannte Programm. Ich starrte wieder auf mein rechtes Bein, das sich noch immer in vornehmer Zurückhaltung übte. Und siehe da, urplötzlich zuckte mein rechter Fuß nach oben. Und nicht nur das, das halbe Bein zuckte mit. Mein Gehirn hatte sich anscheinend auf den undurchsichtigen Deal eingelassen. Vielleicht hatten wir es auch überlistet. Keine Ahnung. Ich war überglücklich, denn ich hatte es ganz genau gesehen. Der Fuß hatte sich bewegt. Mein rechter Fuß. Ich war stolz auf seine Leistung.
Die beiden Damen sahen sich vielsagend an. Alexandra nickte und sagte zu Claudia: »Siehste, da isses.« So trocken kann man es natürlich auch formulieren. Mein Gehirn hatte es geschafft durchzukommen, durch die längste Nervenbahn meines ganzen Körpers, bis hin zum Fuß. Das war ein Grund zum Feiern.
In den nächsten Tagen und Wochen machten wir mit der E-Technik weiter; das Gehirn wurde unter Stress gesetzt und gereizt. Nach ein paar Tagen Quälerei erinnerte es sich schon freiwillig daran, dass es da doch eine Möglichkeit gab, nach unten durchzukommen. Die gleiche Prozedur erfolgte dann links. Und auch da zuerst: »Geht nicht«, bis dann beim Gehirn der Lerneffekt einsetzte – »Ah ja, kenne ich irgendwie schon von rechts« – und auch diese Nervenleitung halbwegs funktionierte.
Und so ging das immer weiter. Nicht, dass von Muskel Nr. 1 bis Nr. 89 alle nacheinander durchexerziert wurden. Das würde Jahre dauern. Es sind nur ausgewählte Bahnen und Partien, die neu angebahnt werden können. Sie sind aber wichtige Bausteine, um Bewegungsmuster in den Denkzentren des tieferen Rückenmarks zu aktivieren. Die Therapie war kein Wunder, sondern eine wunderbare Voraussetzung für alle weiteren Behandlungen. Und sie basierte auf harter Arbeit und eisernem Willen. Wunder hingegen passieren eben mal so.
Eines ist allerdings Grundvoraussetzung für den Erfolg dieser Therapie: Die E-Technik hilft nur bei inkompletter Querschnittlähmung, das heißt, wenn das Rückenmark nicht völlig durchtrennt oder so stark zerstört worden ist, dass keine Signalverbindung mehr möglich ist. Eine inkomplette Querschnittlähmung kann auch entstehen, wenn das Rückenmark für kurze Zeit oder länger gequetscht (Contusio) oder – wie bei einer Gehirnerschütterung – erschüttert wird (Commotio).
Toll, werden manche sagen, die inkomplett gelähmt sind und eine solche Therapie auch wollen. Aber da gibt es einen bitteren Tropfen im süßen Tee: Die E-Technik ist derart personalintensiv, dass keine Klinik über genügend Personal und ein ausreichendes Budget verfügt, um sie jedem zuteil werden zu lassen, dem sie helfen könnte. Das ist traurig, aber wahr! Auch würde diese Methode nicht jeden wieder auf die Beine bringen. Aber manchem könnte sie ein wenig von der Spastik nehmen. Manchem könnte sie mehr Stabilität verleihen oder manch anderem doch diesen oder jenen Schritt ermöglichen. Es muss auch nicht unbedingt die E-Technik sein. Vielen hilft schon die reine Vojta-Therapie. Doch auch die ist aufwendig, braucht speziell ausgebildetes Personal und viel Zeit.
Ich hatte Glück, dass die Ärzte und Therapeuten damals an mir probieren wollten, was die E-Technik leisten kann. Ich bin dankbar dafür, sehr dankbar, denn meine Krankenkasse hätte es sicher nicht bezahlt.