DAS LEBEN GIBT DIR ZITRONEN, MACH LIMONADE DRAUS
Mein Weg zurück ins Leben

Im Alter von 23 Jahren hatte der ZDF-Journalist Stephan Kulle einen Autounfall. Seitdem ist er querschnittgelähmt. Humorvoll und ohne jede Spur von Selbstmitleid erzählt er in seinem Buch, wie ihm das Wunder gelang, aus eigener Kraft wieder laufen zu lernen – ein Bericht, der Zuversicht ausstrahlt und mit falschen Vorstellungen über Querschnittlähmung aufräumt. Der Pattlochverlag hat nun das Buch \"Riss im Glück\" zur erweiterten und veränderten Neuauflage gebracht. Der Titel wurde deshalb geändert. Das sichert die Lieferbarkeit des Buches über die Geschichte einer Querschnittlähmung. Seine Botschaft an alle, die keinen Ausweg mehr wissen: Gib nicht auf! Es geht immer mehr, als du denkst!



Broschiert, 288 Seiten, 12,95 Euro, Pattloch (August 2007) ISBN: 3629021735, und 978-3629021731


LESEPROBE:
Leseprobe aus Kapitel \"Neue Rehawelt\": Nach einer recht holperigen und kurvenreichen Fahrt kamen wir in der Reha-Klinik an. Der Krankenwagen hielt unter einem riesigen Vordach. Dahinter konnte ich einen ziemlich hohen Häuserblock ausmachen. Der wirkte so gräulich wie der Himmel an diesem Tag. Im Foyer schwarz-grauer Marmor an den Wänden und eine typische 70er-Jahre-Deckenverkleidung aus Aluminiumlamellen. Einer der beiden Sanitäter in den roten Rettungsdienstjacken schob mich auf einem Fahrbett durchs Foyer in einen saalähnlichen Flur. Mein neuer Rollstuhl diente als Gepäcktransportkarre. Es roch ein bisschen muffig und so, als würde die Luft von vielen schwitzenden Menschen parfümiert. Der andere Sanitäter, der mit dem Rollstuhl unterwegs war, hatte beim Pförtner geklärt, dass ich in den neunten Stock musste. »Neunter Stock«, rief er mehrmals, »neunter Stock«, so als müsste er es sich ständig vorzählen, damit er es auch bis nach oben bloß nicht vergisst. Im Aufzug roch es nach Schweiß und Schweinebratensoße. Auf dem Stationsflur wieder anders, mehr nach Schweinebratensoße und Zigarettenrauch. Ein älterer Pfleger nahm mich in Empfang und geleitete unseren Treck ins Zimmer. Im Zimmer roch es nach Meister-Proper-Bergfrühling und nach Bratensoße. Irgendwie passte der Duft zum ersten Vertreter des Pflegepersonals, der mir begegnete, denn er wirkte auch nicht mehr ganz frisch, dafür aber völlig hektisch. Er sah aus wie der Saxophonist in der Band aus der Muppets-Show. Ich durfte mich erst mal in mein neues Bett legen. Die Transportsanitäter verließen mich, und der Pfleger verstaute – von einer unsichtbaren Macht getrieben – meine Klamotten im Schrank. Erstaunlicherweise hatte ich wieder das Bett am Fenster, besser gesagt an der Wand aus Glas, das von Aluminiumrippen gehalten und von orangefarbenen Übergardinen gesäumt wurde. Ich war vom Transport ziemlich erschöpft. Die Erschütterungen hatten meinen Hals in ein Krisengebiet verwandelt. Deshalb bat ich den Pfleger um ein Schmerzmittel. Das sei nicht möglich, sagte der, das müsse erst ein Arzt verordnen. Aber er wolle mal sehen, was er tun könne. Dann verschwand er. Ich richtete mich in meinem Bett auf, nur ein wenig – mehr ging alleine nicht –, und beäugte meine neue Welt. Was soll ich sagen, sie war speziell. 70er-Jahre-Verwaltungsbau-Stil. Und dazu der Geruch. Die Tür ging auf, und eine sehr dicke Schwester mit braunen Locken um den Kopf kam herein. Sie brachte mir eine Flasche Mineralwasser, ein Glas und ein kleines Becherchen. »Guten Tag, ich bin Schwester Marlies«, schnaufte sie, während sie sich mit hochgezogenen Ellenbogen an Tisch, Stühlen und Rollstuhl vorbeischob. »Sie kriegen mal was gegen die Schmerzen und dann können Sie erst mal schlafen.« Das klang ziemlich barsch. Ich vermute, dass sie auch ein wenig zum allgemeinen Geruch beigetragen hat. In der neuen Welt war alles etwas ältlich, nicht nur die Optik der Räumlichkeiten, auch das Personal – bis auf den Arzt, der eigentlich auch nur die Vertretung der amtierenden Stationsärztin war. Dr. Zacharias hätte gut und gerne ein Sohn der Schwestern- und Pflegergilde sein können. Er holte mich am frühen Abend zur Aufnahmeuntersuchung in das Arztzimmer. In diesem Zimmer war es schweinekalt, und ich hatte Hunger ohne Ende. Für ein Mittagessen war ich zu spät in der Klinik angekommen, und Abendessen sollte es nach der Untersuchung geben. Dr. Zacharias bat mich, mich auszuziehen und auf die Liege zu legen. Witzig! Leicht gereizt erklärte ich ihm, dass ich das nicht könne; er müsse mir gefälligst dabei helfen. Das tat er dann auch umständlich. Und ich hatte eigentlich schon die Nase voll, als ich nur noch mit einem Slip bekleidet zitternd auf der kalten Liege im kalten Zimmer lag. Ich gab ihm mit bemühter Höflichkeit zu verstehen, dass ich friere. Ach, so lange dauere das doch gar nicht, meinte er, er könne ja mal das Fenster schließen. So was Blödes! Tief in mir spürte ich, dass ich wieder nach Bielefeld zurückwollte, dorthin, wo es warm, gewohnt und heimelig war. Der junge Doktor wirkte etwas chaotisch und suchte in den weißen Plastikregalen nach den nötigen Utensilien. Die Wartezeit in der Tiefkühlzelle hatte zur Folge, dass die Kälte in meinen Beinen spastische Reaktionen auslöste und mein ganzer Körper bei der dann doch irgendwann einsetzenden Untersuchung nicht gerade im Normalzustand war. Mit anderen Worten: Die Untersuchung war zumindest teilweise für die Katz. Das wäre mir ja egal gewesen, denn was interessierte es mich, was in der blöden Patientenmappe stand. Allerdings stellte der schlaue Dr. Zacharias einige Abweichungen seiner Werte von den Daten aus der Überweisungsakte fest. Genauer gesagt, die von ihm erhobenen Fakten waren etwas schlechter als die mitgelieferten. War mir auch egal, aber ihn schien das misstrauisch zu machen. Später sollten mir daraus noch Probleme entstehen. Wie lange ich denn wohl hier bleiben müsse, fragte ich zum Abschluss. Halbes bis drei viertel Jahr, war die Antwort. Oh Gott. Das wollte ich nicht so ganz glauben. Ich würde ihm schon noch beweisen, dass er sich da geirrt hatte. Das Abendessen, auf einem rechteckigen Teller aus Aluminium serviert, war kein wirklicher Trost nach der Untersuchung in der Tiefkühlzelle. Nach all den Geruchshinweisen hatte ich fest mit Schweinebraten gerechnet, aber es waren nur wellige Brotscheiben und einige fade Scheiben Wurst und Käse. Nun ja, alles in allem ein interessanter Start in meine neue Welt.